Individualisierung im Zeitalter der Postmoderne – Pro und Kontra des Lebens in einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft
Inhaltsverzeichnis Seite
1. Einleitung 3
2. Zur aktuellen Situation – Individualisierung in der Postmoderne
- Begrifflichkeiten und Abgrenzung des Forschungsfeldes 4
3. Allgemeine Trends und Entwicklungen 8
4. Ambivalenzen zwischen Sicherheit und Freiheit, 11
Markt und Individualität
5. Schlussbetrachtungen 16
6. Literaturverzeichnis 18
1. Einleitung
Individualisierung und generell Fragen, die sich um das Subjekt und das Themenfeld der Identität drehen, sind seit Anbeginn ein Kernbereich der sozialwissenschaftlichen Forschung. Das Individuum, der Einzelne ist das kleinste Element einer zu betrachtenden Gesellschaft. Erst die mikrosoziologischen Erkenntnisse erlauben Zusammenhänge auch im Größeren zu denken und zu erforschen. Dabei hat sich die Individualisierungsforschung im Laufe der Soziologie Geschichte stetig geändert, von der Annahme eines Subjekts und Individuums überhaupt bis hin zu der weit verbreiteten Vorstellung, in einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft zu leben, reicht dabei die Spannbreite und Fortschritt in der soziologischen Betrachtung.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit soll in der Gegenwart liegen und sich mit dem Phänomen der Individualisierung aus aktueller Perspektive befassen. Dabei wird natürlich auch auf die wichtigsten Faktoren eingegangen, die der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zugrunde lagen, um ein Verständnis für die derzeitige Situation und Diskussion zu entwickeln. Als theoretischer Rahmen, hinter dem die Betrachtungen über Individualisierung hier erfolgen soll, dient die Konzeption der Moderne-Postmoderne Entwicklungstheorie. Vor allem eine kritische Betrachtung dieser Konzeption steht hier im Vordergrund wie sie auch von Soziologen wie Zygmunt Bauman vertreten wird, der gerade auf die Verlierer dieses Modernisierungsprozesses hinweist. Dabei ist es weniger entscheidend, welchen Namen diese Nach-moderne trägt, ob Postmoderne oder den von Ulrich Beck bevorzugten Begriff >>Reflexive Moderne< < (bzw. >>zweite Moderne< <) oder verspätete Moderne u. dergl., sondern entscheidend ist welche Phänomene der Realität sie beschreiben und wie sich das Leben in der derzeitigen Epoche gestaltet. Diese unsere Epoche, in der Schlagworte wie Globalisierung, diverse industrielle Revolutionen und Neo-Liberalismus aber auch damit einhergehend - Prekarisierung, Ausgrenzung und Konkurrenzdenken von entscheidender Prägung sind. Der zu betrachtende Fokus liegt hier vor allem auf unserer westlichen, hoch industrialisierten Welt Europas, der EU sowie vergleichbaren Regionen wie die USA, Kanada, Japan oder auch Australien. Dabei gilt es zu fragen, wie sich die These über die Individualisierung hier entwickelt hat, wie sie heute bewertet wird und welchen Einfluss sie im gesellschaftlichen Kontext ausübt. Der zweite Schwerpunkt soll bei der kritischen Hinterfragung einer auf Individualisierung getrimmten Gesellschaft liegen. Wem nützen diese Trends, passen sie in den forcierten Ideologietrend, wo liegen Gefahren, Vereinzelung des Individuums, Atomisierung der Gesellschaft? Die Frage nach den negativen Phänomenen, die diese Entwicklung verursachen, mit Blick auf die Exclusionsforschung soll im zweiten Teil im Mittelpunkt stehen.
Zunächst ist jedoch eine Abgrenzung des Themas und die Klärung einiger Begriffe entscheidend für eine fruchtbare Diskussion.
2. Zur aktuellen Situation – Individualisierung in der Postmoderne - Begrifflichkeiten und Abgrenzung des Betrachtungsgegenstandes
Der Fokus dieser Arbeit liegt zum großen Teil auf Phänomenen, die einen Bezug auf die Individualisierungsdebatte haben. In räumlicher Abgrenzung bezieht sich die Debatte hier auf die hoch entwickelte westliche (Post-) Industriegesellschaft, vornehmlich Deutschland und die EU. Dies macht aus folgenden Gründen Sinn. Geht man von einer evolutionären Entwicklung der Gesellschaften aus, so sind diese Erdregionen „am weitesten Fortgeschritten“ . In der frühen Phase der Moderne, im kolonialen Imperialismus und darüber hinaus bestimmten diese Erdregionen monopolistisch über die Ausrichtung des Denkens in Philosophie und Sozialwissenschaften, sämtliche Debatten waren vom westlichen Denken bestimmt. Nach der zu dieser Zeit entstehenden Modernisierungstheorie erfolgte die Aufteilung der Welt in eine hoch entwickelte „erste Welt“ und den Rest, die unterentwickelte, den Prozess der Modernisierung nachholende Teil der Welt – später „Zweite- und Dritte Welt“ – welche bis heute praktisch geltende Akzeptanz in Anspruch nehmen kann. Die starke Abhängigkeit vom Westen in der restlichen Welt erlangte einen kritischen Wiederhall in der Dependenztheorie der 60’er und 70’er Jahre. In Teilen haben die Erkenntnisse von damals immer noch Geltung. Der starke westliche Einfluss, vor allem im kulturellen und ökonomischen Bereich ist allgegenwärtig. Der westliche Lebensstil, soweit man ihn vereinheitlichen kann, strahlt über den gesamten Erdball seinen fragwürdigen, nachahmenswilligen Schein aus. Entwicklungen und Beobachtungen, die wir hier in unserem Kulturraum beobachten können, treten mit hoher Wahrscheinlichkeit und ähnlicher Form auch bald in anderen Regionen auf. Auch wenn die evolutionäre Gesellschaftstheorie „aus-gedient“ hat, so kann man eine gewisse Avantgarde des Westens nicht verleugnen. Deshalb macht es Sinn, sich auf diese Region und diesen Kulturkreis zu beschränken.
Zeitlich ist diese Untersuchung im Hier und Jetzt zu verorten. Vor allem aktuelle Phänomene und der aktuelle Zeitgeist stehen im Vordergrund. Dabei gilt es natürlich auch, Entwicklungen aufzuzeigen und Konzeptionen zu betrachten, die unsere Zeit theoretisch umformen. Vor allem die Entwicklung der letzten 30, 40 Jahre sind hier von entscheidender Bedeutung, die Krisen der Moderne, die zu neuen Konzeptionen führten und die Debatten von heute bestimmen. In diesem Sinne möchte ich mich vor allem auf die Postmoderne Konzeption festlegen. Der Begriff hat eine Gewisse theoretische Entwicklung und wissenschaftliche Rezeption hinter sich und scheint mir aus diesen Gründen geeignet, den Gegenstand zu beschreiben. Auch wenn der Begriff der Postmoderne vielfach in der Kritik steht und von vielen Sozial-wissenschaftlern mehr oder weniger abgelehnt wird, bietet er auch Vorteile. Der Hauptvorwurf liegt wohl in der Unbestimmtheit und Diffusität des Begriffs, der damit einer gewissen Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Deshalb gilt es an dieser Stelle den Begriff für die Benutzung in dieser Arbeit zu konkretisieren. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf die Postmoderne Konzeption von Wolfgang Welsch und Zygmunt Baumann, die sich auch wieder auf Postmoderne „Klassiker“ wie Lyotard oder auch Baudrillard beziehen. Folgende Aspekte der Postmoderne möchte ich an dieser Stelle hervorheben: Es handelt sich keineswegs um das Ende der Moderne, sondern um einen fließenden Übergang, dessen Kern immer noch die Moderne bildet, diese sich aber vom bisherigen Verständnis und früheren Modernen wesentlich unterscheidet, so dass eine neue epochale Begrifflichkeit vonnöten ist. Das Projekt der Moderne wird hinterfragt, Moderne wird aufgebrochen und erweitert, ergänzt, verändert. Mit den Worten Lyotards: “So gesehen, bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“ Der springende Punkt liegt in den Unterschieden zur traditionellen Moderne. War das Ziel der Moderne die Überwindung der Tradition und die Schaffung von Sicherheiten, so ist in der Postmoderne ein drang zu einem Mehr an Freiheit zu verzeichnen. Gab es in der Moderne noch „die großen Erzählungen“ und „Universalismen“, die auf Planung ausgelegten Konzepte einer größtmöglichen Integrität und Kollektivität, so gilt das für die Postmoderne nicht. „Die Moderne ist ein gesellschaftlicher Zustand des zwanghaften und süchtig machenden Planens“ Das Planen versucht Unsicherheit zu verhindern. Zwar haben einige „große Erzählungen und Universalismen“ überlebt wie etwa das Ideal der Menschenrechte, die heilsversprechenden Erwartungen an einen freien, kapitalistischen Markt, doch es sind mehr Rudimente der „großen Erzählungen“ übriggeblieben. Vor vierzig Jahren hatten diese Universalismen noch einen ganz anderen Stellenwert, die Welt war im kalten Krieg gespalten und der Marxismus war eine von diesen „Großen Erzählungen“. Heute hat das Planen mehr oder weniger ausgedient, es ist wohl auch bewusst geworden, dass es den perfekten Plan nicht gibt und die Fehler eines Plans unweigerlich zum nächsten Plan führen und so weiter, es also unmöglich zu einem Ende kommen kann. Anstelle dieses Planens ist ein neuer Pragmatismus angetreten. Selbst der eigene Lebensweg ist davon ausgeschlossen. Galt eine langfristige Planung des Lebens in der Moderne noch als ein Maß und Wert, so ist heute eher das Gegenteil eingetreten. Um das Problem um die Identitätenbildung in der Moderne und der Postmoderne mit den Worten Baumanns zu beschreiben: „Wenn das moderne >>Problem der Identität< < darin bestand, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, dann besteht das postmoderne >>Problem der Identität< < darin , die Festlegung zu vermeiden und sich die Optionen offen zuhalten. [...] ,wenn für die Moderne jenes Medium, das die Botschaft ist, das Foto war ([...]), dann ist das ultimative Medium für die Postmoderne das Videoband (leicht zu löschen und wiederverwendbar; danach kalkuliert, nichts für immer festzuhalten, sondern die Ereignisse von heute nur unter der Bedingung zuzulassen, dass die gestrigen gelöscht werden; und dabei sondert es die Botschaft der universalen >>Vorläufigkeit< < all dessen ab, was der Aufzeichnung für wert gehalten wird). Die zentrale identitätsbezogene Angst war in den modernen Zeiten die Sorge um Haltbarkeit; heute ist es das Interesse an der Vermeidung von Bindung. Die Moderne baute in Stahl und Beton; die Postmoderne in biologisch abbaubarem Plastik.“ Wichtig ist, die Postmoderne ist kein Garant für Stabilität, sondern mehr ein Ausdruck für Variabilität und Diskontinuität. Die Akzeptanz eines grenzenlosen Pluralismus ist meiner Ansicht nach das Kernelement der Postmoderne. Übertragen auf das Individualisierungsthema ergibt sich eine Beschleunigung dieses Prozesses in der Postmoderne, der seinen Ausgang jedoch schon weit vor der Moderne genommen hat. Ulrich Beck sieht ähnliche Phänomene in der von ihm bevorzugten Konzeption einer zweiten Moderne oder reflexiven Moderne gegenüber der Postmoderne Konzeption: „... Zweitens wird die Zuordnung zu vorgegebenen Kollektivkategorien durch die Intensivierung von Individualisierungs-prozessen brüchig. Überhaupt ist eine Art institutionalisierter Individualismus für die Gesellschaften der Zweiten Moderne kennzeichnend. Das erklärt sich damit, dass zentrale Basisinstitutionen der Gesellschaft wie Bildung, soziale Rechte, politische und zivile Rechte, aber auch Arbeitsmarktbeteiligungschancen oder Mobilitäts-prozesse auf das Individuum ausgerichtet sind und nicht auf die Gruppe oder die Familie. Damit wird die Individualisierung insgesamt beschleunigt. Sie wird zu einer immanenten Dynamik dieser Gesellschaft mit der Folge, dass die Kollektiv-definitionen und Kollektividentitäten von innen her aufgehoben werden, wie wir das in der Auseinandersetzung um die Familie erlebt haben.“
Mit dem vielschichtigen Begriff Individualisierung wird ein allgemeiner Prozess bezeichnet, der sicher schon seit der Entstehung von Gesellschaften, also kollektiven Verbunden, besteht. Für diese Arbeit sind jedoch nur die neuesten Entwicklungen dieses Prozesses von Bedeutung. Mit einigen Kernwörtern lässt sich der Gebrauch dieses Begriffs in dieser Arbeit umreißen. Auflösung kollektiver Gebilde wie Klassen und später Milieus, Entstandarisierung von Lebensläufen, Flexibilisierung und Mobilisierung der Lebenswelt, hybride Identitäten, Bastelexistenzen, Vereinzelungs-tendenzen und Atomisierung der Gesellschaft, Pluralitäten der Lebenswelten etc. – an dieser Stelle könnten sicher noch eine ganze Reihe anderer Schlagworte stehen, der Gebrauch des Wortes Individualisierung wird jedoch schon anhand dieser Verbindungen deutlich. Ebenfalls deutlich Sinn macht die Verbindung des Individualisierungskonzepts mit der Theorie der Postmoderne. Im Folgenden geht es um die Darstellung konkreter Phänomene und Tendenzen sowie Fehlentwicklungen.
3. Allgemeine Trends und Entwicklungen
Das Leben in unserer heutigen Zeit, unserer postmodernen Zeit ist gewiss ein anderes als das unserer Eltern und Großeltern. Eine Aussage der in den letzten zweihundert Jahren sicherlich jede Generation zustimmen würde, denn in dieser Zeit nahm die gesellschaftlich, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung der Menschheit, vor allem die des Westens einen rasanten, exponentiellen Verlauf. Dieser exponentielle Entwicklungsverlauf ist bei weitem nicht am Ende, im Gegenteil, die Beschleunigung wächst unaufhaltsam und in rasanter Weise. Deshalb fällt es auch schwer sich auf einen Punkt zu konzentrieren, da alles irgendwie in Bewegung scheint und ständiger Veränderung ausgesetzt ist, Beständigkeit als modernes Phänomen eher ausgedient hat, welches Zygmunt Baumann sicherlich auch dazu veranlasste, die Postmoderne-Konzeption durch die Konzeption der >>liquid modernity< < zu ergänzen. Was macht das Leben im Heute aus, wie individuell ist es? Dazu kann man der Frage nachgehen, wie ist das Leben strukturiert? Im Längsschnitt gliedert es sich im biologischen Sinne zwischen Adoleszenzphasen, der Erwachsenen Reproduktionsphase und dem Ausklingen des Lebens im Alter. Im sozialen Sinne und unter der Prämisse der Moderne verlief das Leben von der jugendlichen Ausbildungsphase über eine lange Phase der Erwerbstätigkeit mit eventueller Familienbildung und anschließender Pensionszeit. Der biologische Verlauf des Lebens ist abgesehen von einer kontinuierlichen Verlängerung unserer Lebensspanne nicht von der Entwicklung betroffen. Bei der sozialen Lebensbiografie sieht es dementsprechend anders aus. Galt die eben skizzierte Laufbahn als charakteristisch für die Moderne, so trifft das heute schon nicht mehr zu. Für den Querschnitt fallen die Veränderungen noch gravierender aus.
Nimmt man die Pluralität als obersten Maßstab unserer Zeit, so lässt sich folgendes beobachten:
Als Heranwachsender steht man einer schier nicht zu überschaubaren Menge an Lebensentwürfen und Lebensstilen gegenüber. Traditionen und deren Bindungen sind nur noch in Rudimenten vorhanden. Selbst die Kleinfamilie ist auf dem Rückzug und kann nicht mehr als die normale mikro-kollektive Größe angesehen werden. Schon das Problem der eigenen Identität ist heute ein ganz anderes als noch vor 40 Jahren. So etwas wie Klassenzugehörigkeit ist mit der Auflösung der Klassen für sich im Marxschen Sinne nicht mehr möglich. Traditionelle Werte und religiöse Bindungen sind ebenfalls nicht mehr sinnstiftend und weithin auf dem Rückzug. Die eigenen Eltern verlieren zusehends die Funktion von Leitbildern. Waren die Identitäten in vergangenen Zeiten eingebettet, in Stand, Klasse, soziale Herkunft, Beruf des Vaters etc. .., so spricht man heute von der entbetteten Identität. Auch andere Begriffe sind für dieses Phänomen im Umlauf, so verweist Ronald Hitzler und Anne Honer auf >>Bastelexistenzen< < in einem Beitrag zu einem Sammelband oder auch >>hybride Identitäten< < sind geläufige Ausdrücke. Es liegt also mehr oder weniger in der Verantwortung des Individuums selbst, sich eine Identität zu erschaffen. Dies geschieht zu vorderst im Kosum- und Freizeitverhalten, da hier die größten Wahlmöglichkeiten vorhanden sind. Außerhalb dessen greifen noch Überindividuelle Strukturen wie die allgemeine Schulpflicht oder die familiären Rahmenbedingungen und im Groben der gesamtgesellschaftliche Kontext. Im weiteren Verlauf des Lebens muss permanent gewählt werden, nichts scheint mehr vorgegeben und planbar. Die Erfordernisse der aktuellen Erwerbswelt nach der 3.industriellen Revolution sind geradezu darauf angelegt. Flexibilität und Mobilität sind die Prämissen der Arbeitswelt von heute. Bereits an dieser Stelle wird der Unterschied zur Moderne sichtbar. Das mehr an Freiheit in der Postmoderne wird zugunsten zunehmender Unsicherheiten erkauft. Das Individuum ist gezwungen, mehr Verantwortung sich selbst gegenüber wahrzunehmen.
Nun darf man aber nicht davon ausgehen, dass alle vom gleichen Startplatz aus ins Leben starten. Mehr denn je ist diese Ausgangsposition eine sehr individuelle Angelegenheit und schränkt in ihrem Verlauf die These einer grenzenlosen/ schrankenlosen Individualisierung wieder ein. Damit meine ich, nach wie vor sind die sozialen Vorraussetzungen beim Bildungsweg und späteren Erwerbsleben wesentlich. Wie sind die materiellen und zeitlichen Ressourcen der Familie, gibt es überhaupt eine Familie oder wächst das Individuum bei einem alleinerziehenden Elternteil auf, sind die Eltern Akademiker? Faktoren, die nach neuesten Erkenntnissen sehr bestimmend auf die Entwicklung der Kinder einwirken. Vor allem die materiellen und zeitlichen Ressourcen sind maßgebend für die Individualisierung. Ohne in diesen Bereichen gewappnet zu sein, ist es nahezu unmöglich sich über den Konsum (in den Grenzen des Marktes) zu individualisieren und die Freizeit zu gestalten. Später ist es kaum möglich am Arbeitsmarkt seinen individuellen Anspruch geltend zu machen, da die Lebenserhaltung im Vordergrund steht und praktisch jede Tätigkeit angenommen werden muss. Man sieht, Individualisierung benötigt gewisse Vorraussetzungen. Diese sind seit der Moderne unentwegt geschaffen worden. Wir leben in einem bis dato nicht gekannten Wohlstand und dieser ist durch den Fahrstuhleffekt auch bis in die untersten Schichten vorgedrungen. Soweit zu den Tatsachen der Wirtschaftswunderzeiten in der Moderne, die es erlaubten, einen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat zu schaffen und damit die Vorraussetzung für ein mehr an Freiheit, verbunden mit einem beschleunigten Individualisierungsprozess. Spätestens als der integrative Wohlfahrtsstaat dann erstmals an Grenzen stieß und bei gleichzeitigem Popularitätsgewinn Neo-Liberaler Konzepte, ging die Entwicklung wieder in eine andere Richtung. „Die Lange Zeit große >systemische< Integrationskraft dieses (wohlfahrtsstaatlichen, J.B.) Regulierungsmodells, das zumindest den Westdeutschen eine vergleichsweise >krisenfeste< Wohlstandsgesellschaft bescherte, gerät jedoch spätestens seit 1990 verstärkt unter Druck: Globalisierung und verschärfte ökonomische Konkurrenz scheinen marktbestimmte Ungleichheiten im Kapitalismus erneut anwachsen zu lassen – und es kann nicht nur gefragt werden, ob die damit einhergehenden Tendenzen von Spaltung und Ausgrenzung die Integrationsfähigkeit des >Modells Deutschland< gefährden, sondern auch, ob sich diese Entwicklungen als Wiederkehr der Klassengesellschaft interpretieren lassen.“ Der Bisherige Gipfel dieser Entwicklung ist die von SPD und Grüne in die Wege geleitete Agenda 2010 mitsamt der Hartz- Gesetzgebung. Diese wirkt sich natürlich negativ auf den Prozess der Individualisierung aus. Die hierfür erforderliche (materielle) Sicherheit wird für einen zunehmenden Teil der Gesellschaft nicht mehr gewährleistet. Konsumindividualismus und Individualität durchs Freizeitverhalten kann bei zunehmend prekärer Lage nicht mehr gewährleistet werden. Die Spaltung der Gesellschaft schreitet voran und es ist vielleicht auch die Wiederkehr von klassenähnlichen Phänomenen – auf der einen Seite die Abgehängten, Überflüssigen, die kaum eine Chance haben, je wieder in die Erwerbsgesellschaft integriert zu werden und auf der anderen Seite eine Erwerbsgesellschaft die einem zunehmenden Druck ausgesetzt wird und ständig befürchten muss in das Lager der Überflüssigen deportiert zu werden. Als Überbau ein Staat, der sich aus seiner sozialen Verantwortung weitestgehend zurückgezogen hat und gleichfalls übermächtige Kapitalkonglomerate mit dem Besitz an Produktionsmitteln, der Meinungshoheit und der Absorption sämtlicher Gewinne und Mehrwerte der Erwerbsgesellschaft. Wie gestaltet sich Individualisierung unter solchen Vorraussetzungen? Ist es nicht mehr eine Pluralisierung des Fortschritts, der technischen Entwicklung und des Warenangebotes – und die individuelle Freiheit, sein Leben eigenmächtig zu gestalten ist eher auf dem Rückzug? Wenn zum Beispiel Hartz IV- Betroffenen fundamentale Bürgerrechte wie der freien Wahl des Wohnortes abgesprochen werden, oder Arbeitnehmer gezwungen sind den Wohnort nach Arbeitgebervorgaben zu wählen?
4. Ambivalenzen zwischen Sicherheit und Freiheit, Markt und Individualität
Wie sieht das Phänomen der Individualisierung in unserer postmodernen Welt aus? Pluralismus der Identitäten und damit ein grenzenloser Individualismus, mit welchen Konsequenzen? Ist die vom Grundgesetz vorgeschriebene freie Entfaltung der Persönlichkeit in unserer heutigen Welt in vollem Umfang gewährleistet? Wird diese nicht vielmehr von staatlichen Institutionen und marktgelenkten Kräften geformt? In wieweit wird dieses Recht mit zunehmenden Sicherheitsbestrebungen untergraben? Die Antworten können hier natürlich nur kurz skizziert werden und bedürften letztendlich tiefgründigere Analysen, als das hier möglich wäre, sie sollen uns aber im letzten Abschnitt leiten.
Würde ein vor hundert Jahren lebender Mensch in unsere Welt katapultiert, hätte er gewiss den Eindruck an ungeahnter Pluralität und einer stark individualisierten Gesellschaft. Vormals traditionelle und religiöse Schranken der Lebensführung sind aufgehoben, das Leben zeigt sich in einer oberflächlichen Vielfalt. Aber ist es wirklich so frei und vielfältig? Festzustellen bleibt, wir werden alle in eine Gesellschaft hineingeboren, sind also alle von ihr determiniert. Es gibt gewisse kollektive Größen, derer wir uns nicht erwähren können und die uns somit prägen. Vom gemeinsamen Schulsystem über die kollektive Medienlandschaft bis hin zum kapitalistischen System, dem politischen System und letztendlich dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft, der man angehört. Weiter sind wir alle auf dem gleichen Planeten beheimatet und haben fast identische biologische Bedürfnisse, die uns in eine materielle Existenz zwingen. Gerade die ausreichende Stillung der materiellen Bedürfnisse ist Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und dementsprechender Individualisierung. In einem stark ausgebauten Sozial- und Wohlfahrtsstaat, wie es für Deutschland noch bis vor kurzem galt, war diese Voraussetzung größtenteils gegeben. Der globale und nationale Trend ist jedoch die Demontage des selbigen, dies hat fatale Folgen für das Recht auf selbstbestimmtes Leben und den Individualisierungsprozess. Der zunehmende Teil der Menschen mit prekären Lebensbedingungen, dazu gehören Menschen die auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind, Billigjobber und dergleichen, ist in einer Lage, in der die elementarsten materiellen Bedürfnisse gerade noch gedeckt werden. Hinzu kommt vor allem bei ALG II- Empfängern und Arbeitslosen ein ungeheurer behördlicher Druck, auch Schikanen sowie eine allgemeine gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu. Über das Leben von Migranten an dieser Stelle ganz zu schweigen. Dieses Gros an gesellschaftlichen Mitgliedern ist letztendlich der Möglichkeit beraubt an Individualisierungsprozessen (v.a. im Sinne des Konsumindividualismus) teilzunehmen. Sie erfüllen fast Eigenschaften einer Klasse an sich, d.h. sie leben alle unter ähnlichen prekären Voraussetzungen, sind angewiesen die gleichen, billigsten und notwendigsten Produkte zu konsumieren, haben alle die gleichen Erfahrungen mit Ämtern und Behörden, sind dem gleichen Druck ausgesetzt, einen gleichen sozialen Status und leiden unter der Generalstigmatisierung der (noch) Erwerbsfähigengesellschaft. Selbst die Kinder werden zumeist Generatoren ihrer eigenen Herkunft, gerade in Deutschland wird Armut vererbt, ist die soziale Herkunft entscheidend für den späteren Status der Kinder. Die Entwicklung deutet darauf hin, dass auch die Mitte der Gesellschaft zunehmend davon bedroht ist auf dieses Niveau zu fallen, gerade unter dem Primat der neo-liberalen Ökonomie in der globalisierten Welt, mit der Ironie, dass gerade diese Gruppe für die Stigmatisierung der staatlichen Leistungsempfänger hauptverantwortlich ist. Sie werden auch meist von einer Illusion geleitet, die oftmals für Individualisierung gehalten wird und wohl auch mitverantwortlich für die allgemeine Debatte um zunehmenden Individualismus ist. Die Worte Ulrich Becks bringen dies auf den Punkt.: „Der Individualismus ist als neoliberales Projekt in weiten Bereichen der Gesellschaft fast vollständig absorbiert worden. Es kursiert der Begriff des Selbstunternehmertums, in dem das schon begrifflich miteinander verschmolzen ist. Das eigene Leben wird als Unternehmen entworfen, und man muss sich als Kapitalist dem gegenüber verhalten und alle Bezüge des eigenen Lebens im eigenständigen, vorweglaufenden Gehorsam den Marktbedingungen konform organisieren. Also wird man zum Arbeitgeber seiner selbst. [...] Früher hatte man noch den „Vorteil“, dass der Andere der Unterdrücker war, und man konnte sich dagegen politisch zur Wehr setzen. Jetzt, in der nächsten Stufe des Kapitalismus, lädt der Unternehmer noch den Zwang der Selbstausbeutung und der Selbstunterdrückung auf das Individuum ab, und das muss zu allem Hurra rufen, weil das nun der ganz neue Mensch ist, der hier geboren wird. Ja, das ist deutlich erkennbar, und man kann sogar sagen, dass – und das ist ja dabei auch sichtbar – diese Form des Individualismus hoch funktional ist für die Institutionen und deshalb dieser Trend noch lange nicht zu Ende ist. Die Funktionalität liegt eben darin, dass alle institutionellen Probleme, nicht nur im Bereich der Organisation von Arbeitsprozessen, sondern auch der sozialen Sicherheit, des Wohlfahrtsstaates oder der Umweltprobleme, jetzt auf diesen neuen Zauberlehrling des Selbstunternehmers abgeladen werden können. Der wird zum Mülleimer der ungelösten Fragen aller Institutionen. Und er soll sich sozusagen den Mülleimer, den er darstellt, diese garbage can, zu der man ihn gemacht hat, wiederum in ein schöpferisches Projekt seiner selbst verwandeln. [...] Der Selbstunternehmer agiert in der Illusion, wie Richard Sennet zeigt, seiner grenzenlosen Autonomie. Er lebt in der Vorstellung, dass er ein Herkules sei, ein Mini-global-player, dass er in einem gesellschaftlichen Vakuum existiere. Er hat tatsächlich die Illusion der Monade, der totalen Unabhängigkeit. Er lebt damit – im strengen Sinne – in einem falschen Bewusstsein, weil diese Form des Selbstunternehmers letzten Endes nur das hochartifizielle Produkt einer sehr komplexen Vergesellschaftungsform ist, und er ist einer Radikalität von Abhängigkeiten ausgesetzt, die jetzt nicht allein den Nationalstaat oder die lokale Identität umgreifen, sondern das Weltsystem. Hier haben wir die Paradoxie, dass der Selbstunternehmer als Robinson Crusoe der Weltgesellschaft eine insulare Existenz führt zu einem Zeitpunkt, da er in totaler Abhängigkeit im Dschungel des Weltmarktes globalen Mächten ausgesetzt ist und diese Situation gar nicht mehr als solche erkennt. Das ist also ein hochgradig illusionäres Bewusstsein, übrigens auch hochgradig widersprüchlich, weil der Selbstunternehmer die sozialen Bedingungen seiner Existenz nicht mehr erkennt.“ Diese Erkenntnis offenbart die Ironie an der Sache. Die von der Erwerbsschicht für sich postulierte Individualisierung ist weitestgehend eine Illusion. Die Glorifizierung des destandardisierten Lebenslaufs, die neue Flexibilität und Mobilität der Arbeitswelt kaschiert nur die überwältigende Abhängigkeit von Marktmächten, ohne das diese jedoch klar erkannt werden. Im Grunde ist sowohl der „Prekäre Teil“ der Gesellschaft und der noch „nicht Prekäre Teil“ der Mehrwertschaffenden in einer ähnlichen Situation. Hinzu kommt die neue Ablenkung von der Bewusstwerdung dieser Zusammenhänge. Es kann nur von Vorteil sein, wenn die Beschäftigten in dem von Beck beschriebenen Zustand verweilen und sich selbst das Wasser abgraben und dazu noch „hurra“ rufen.
Die neue Ablenkung ist die veränderte Situation nach dem 11. September 2001. Die terroristischen Anschläge vermutlicher islamistischer Fundamentalisten in New York erschufen ein neues Szenario weltweiter Bedrohung und Ängste. Dieses von allen Mitgliedern der westlichen Welt aufgebaute Angst-Szenario dient hervorragend als Ablenkungsmanöver von den wirklichen Problemen, die eine neo-liberale Weltordnung erschafft. Die Angst vor einem sozialen Abstieg wird nun durch die Angst mangelnder Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit überdeckt. Auch 6 Jahre nach diesen Attentaten herrscht eine wahre Hysterie hinsichtlich einer vermeintlich terroristischen Bedrohung in den Medien. Im Zuge dieser Entwicklung erfolgt zudem der Umbau unseres freiheitlich, bürgerlichen Rechtsstaates hin zu einem präventiven Sicherheitsstaates. Mit den neuen Mitteln dieses Sicherheitsstaates ist es um ein Vielfaches einfacher a) von Problemen abzulenken; b) kritische Stimmen mit Repressionen mundtot zu machen; c) ein allgemeines Klima der Angst zu etablieren. Sollten die Massen an „Prekären“ und „noch nicht Prekären“ Bürgern die Selbsterkenntnis über die Determinanten ihrer Situation sich bewusst werden, sind ihnen mittlerweile die politischen Mittel versagt worden, um ihren Protest und Widerstand zu artikulieren. Dies ist zugegeben eine Überspitzung, aber die Tendenzen laufen eindeutig in diese Richtung.
Nüchtern betrachtet ergibt sich ein Bild, dass die Individualisierungsthese in großen Teilen in Frage stellt. Es ist zwar eine im postmodernen Sinne hohe Pluralität an Lebensformen und Lebensbiographien vorhanden, jedoch muss man hinter die Oberfläche schauen, um festzustellen, dass hier weniger von einem selbstbestimmten freien Leben die Rede ist, sondern vielmehr Marktmechanismen und Konsumgewohnheiten hinter der vermeintlichen Pluralität stecken. Besonders der von mir so bezeichnete Konsumindividualismus ist eine Pseudo-individualisierung. Der Konsument hat vielleicht den subjektiven Eindruck von einem hohen Grad an Individualität und Originalität, in Wirklichkeit ist er jedoch auf den Markt angewiesen, oder bedient sich dessen. Vor allem diejenigen, die es für individuell halten, sämtlichen Modetrends hinterherzuhecheln muss gesagt werden, dass dieses Verhalten alles andere als individuell ist. Der Konsum erfüllt ebenso die Aufgabe der Ablenkung, es ist einfacher, Modetrends zu folgen als sich den Zusammenhängen der gesellschaftlichen Misslage bewusst zu werden. Der kolportierte neoliberale Zeitgeist unterstützt dies natürlich. Es findet ein vermehrtes Konkurrenz- und egozentriertes Denken statt, eher eine Atomisierung der Gesellschaft statt und nur wer dies missversteht spricht hier von Individualisierung.
Außerhalb des Marktes ist es nur sehr schwer, zu existieren und Individualismus im positiven Sinn zu praktizieren, es ist nahezu unmöglich. Am Beispiel der sogenannten Subkulturen kann man sehr deutlich erkenn, wie der Markt funktioniert. Sobald der Versuch unternommen wird aus der Kultur, dem Markt und der Gesellschaft ein wenig auszubrechen, sobald man von so etwas wie einer Subkultur sprechen kann (ich habe hier den Punk vor Augen), ist der „Ausstiegsprozess“ auch fast schon wieder revidiert, und der Markt ergreift das Zepter und eine Kommerzialisierung setzt ein, welche das subkulturelle Bestreben in gelenkte Pfade weist und es zu einem Teil der Hauptkultur macht (mit Nietenarmbändern bei H&M und Irokesenschnitt vom Modefriseur). Wer sich also durch den Konsum individualisieren will, erliegt einer Illusion und sobald der Versuch unternommen wird marktunabhängig zu agieren, schluckt der Markt auch diese Bestrebungen. Das führt natürlich auch zu einem relativ pluralen Markt, mit vielen Möglichkeiten und Angeboten, sein Leben zu gestalten. Durch die vielen Möglichkeiten des Konsums findet so auch eine Zerstückelung der Marktteilnehmer statt, die sich von ihrem Konsum untereinander abgrenzen und dies als Individualisierung feiern. Damit wird der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Solidarität der Gruppen mit ähnlichen gesellschaftlichen und sozialen Determinanten, aber unterschiedlichen Konsumpräferenzen, zusätzlich geschwächt. Die Vereinzelung der Menschen und Gruppen lässt die Kritik am Gesamtsystem immer schwächer werden.
Die Hoffnung auf eine Klasse für sich, wie sie einst Marx hegte, ist in unserer Postmoderne relativ hinfällig. Der einzige Weg ist, dass sich die Bewusstwerdung der (individualisierten) Massen über ihre eigene Situation und deren funktionalen Zusammenhänge durchsetzt und so der allgemeine Trend aufgebrochen werden kann, der in das Gegenteil von Freiheit und Selbstbestimmung führt. Dies kann durch Großereignisse (Tschernobyl, Kriege, Klimawandel etc.) oder auch durch die Überdehnung dieses Trends geschehen.
5. Schlussbetrachtungen
Es zeichnet sich ein recht zwiespältiges Bild über die hier angestellten Überlegungen zum Thema Individualisierung in der Postmoderne. Es wäre ebenso falsch den Trend zu einem mehr an Individualisierung zu negieren als auch zu behaupten, diese Ära der Menschheit ist der Gipfel an Individualisierung und selbstbestimmten Leben. Sicher ist, dass wir uns in unserer westlichen Welt auf einen bis dato nicht gekannten Wohlstand stützen können, der dieser Entwicklung hin zu einem selbstbestimmten Leben Vorschub leistet. Der „Modernen“ Vorstellung von einer zu erreichenden Utopie, dem Paradies auf Erden - und zu Lebzeiten muss allerdings zutiefst widersprochen werden, schaut man sich den Werdegang der Menschheit in den letzten Jahrzehnten an. Derzeitige Entwicklungen laufen eher einer Dystopie entgegen, wie sie sich nicht einmal George Orwell ausmalen konnte. Doch ist es eine ganz andere Welt als das sie von Moderne - Denkern gedacht werden konnte. Die Kollektivität ist eine andere, der Moderne - Drang zur Integrität ist entfallen. Die Moderne existiert zwar noch weiter in der Postmoderne und die gedanklichen Konstrukte, die darauf beruhen haben eine ungebremste Attraktivität und werden auch von vielen nach wie vor vertreten, aber sie sind der Realität in unserer Postmoderne noch weiter entrückt. Für das Handeln ist ein humaner Pragmatismus, der vor allem auf die Risiken unserer Welt acht gibt, wohl ein passabler, realistischer Ausweg. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die großen Ideen der Moderne nicht alsbald eine Renaissance erleben, wenn zum Beispiel die Bewusstwerdung der Massen einsetzt. Aber selbst wenn sie einsetzt, wird es nicht das Gleiche wie in der Moderne sein, Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Es bleibt zu hoffen, dass eine große Zeit der Selbsterkenntnis die Bürger erfasst und sie daraus ihr Handeln ableiten. Tendenzen in diese Richtung gibt es ja schon zu Genüge. Das Internet als unabhängiges Informationsmedium, die neuen sozialen Bewegungen, die Renaissance des lateinamerikanischen Sozial(-demokrat)ismus, Konsumboykotte etc.. Es gibt den Mainstream, der Macht und Meinungshoheit besitzt, aber es gibt auch eine Gegenströmung, oder besser gesagt viele Gegenströmungen. Wenn anstatt einer Atomisierung der Gesellschaft durch Konsum und Konkurrenz, ein Trend zur kritischen Selbstentfaltung und kollektiver Solidarität in Gang gesetzt wird, kann sich das Blatt noch wenden und Horrorszenarien abgewendet werden. Es bleibt die Hoffnung auf Vernunft (ohne dabei die Kritik der reinen Vernunft zu vergessen), im Individuum und auf gesellschaftlicher Ebene. Die Menschen haben Risiken geschaffen, welche die weitere Existenz der Menschheit gefährden, warum sollten die Menschen es nicht auch schaffen diese Risiken wieder abzubauen. Der Atomausstieg ist schon mal ein kleiner Anfang. Auch er hat mit Individualisierung zu tun, genauso wie die grüne Bewegung. Hier zeigt sich deutlich das Aufbrechen der Moderne. Es gibt so gesehen einige Beispiele, die einen optimistischen Blick in die Zukunft erlauben. Ohne den Mut zum Optimismus ist das Individuum ehedem in einer schlechten Position. Die Individualisierung im positiven Sinn, ein Mehr an selbstbestimmten Leben, ist gleichzeitig gepaart mit guter, kritischer Bildung und einem gewissen Maß an Altruismus eine Chance, die inhumanen Trends der Neoliberalen- Weltentwicklung in humane Fahrwässer zu zwingen.
6. Literaturverzeichnis
Heinz Abels: Identität – Lehrbuch, Wiesbaden 2006
Zygmunt Baumann: Verworfenes Leben – die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005
Zygmunt Baumann: Flaneure, Spieler und Touristen, dt. gekürzte Ausgabe, Hamburg 1997
Zygmunt Baumann: Schwache Staaten, Globalisierung und die Spaltung der Weltgesellschaft, in: Beck (Hg.) 1997
U.Beck, J.Willms: Freiheit oder Kapitalismus – Gesellschaft neu denken Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms, Frankfurt/M. 2000
Ulrich Beck: Kinder der Freiheit, Wider das Lemento über den Werteverfall, in Beck (Hg.) 1997
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. Main, 1986
Joachim Bischoff: From Welfare to Work? – über den >>Umbau<< des Sozialstaates, in Sebastian Herkommer (Hg.) Soziale Ausgrenzungen – Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg 1999
Richard von Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich – die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001
Undine Eberlein: Einzigartigkeit – Das romantische Individualisierungskonzept der Moderne, Frankfurt/M. 2000
Nicola Ebers: „Individualisierung“ – Georg Simmel – Norbert Elias – Ulrich Beck, Würzburg 1995
Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. Main 1986
Ronald Hitzler, Anne Honer: Bastelexistenzen. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, U./ Beck-Gernsheim, E. (Hg.) 1994
Heiner Keupp: Ambivalenzen postmoderner Identität, in: Beck, U./ Beck-Gernsheim, E. (Hg.) 1994
J.-F. Lyotard: Beantwortung der Frage was ist postmoderne? in Wolfgang Welsch: Wege aus der Moderne, Berlin 1994
Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998.
Helen Wilkonson: Kinder der Freiheit, Entsteht eine neue Ethik individueller und sozialer Verantwortung?, in: Beck (Hg.) 1997
H. Willems/ A. Hahn (Hg.): Identität und Moderne, Frankfurt/M. 1999
Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, 6. Auflage, Berlin 2002
Wolfgang Zapf: Staat, Sicherheit und Individualisierung, in: Beck, U./ Beck-Gernsheim, E. (Hg.) 1994